Dieser Roman von Thornton Wilder, für den er 1928 seinen ersten von insgesamt drei Pulitzerpreisen erhielt, bringt mich zu einer Geschichte, in der ich aus unserer Bücherwand heraustrete und in eine andere einsteige: in die meines Vaters in unserem Pfarrhaus in Odenspiel. Obwohl die Brücke von San Luis Rey jahrzehntlang direkt vor meiner Nase im Bücherregal stand, habe ich ihn erst kürzlich gelesen. Und das auch „nur“, weil ich durch ein anderes Buch aus der Bücherwand meines Vaters darauf gestoßen wurde: durch die Begegnungen von Robert Crottet. Auf diesen wunderbaren Schweizer Schriftsteller, der seine Kindheit in St. Petersburg und Karelien verbrachte, werde ich in einer späteren Besprechung zurückkommen.
Mein Vater hatte in unserem Pfarrhaus zwei Bücherwände: Die erste war voll mit Fachliteratur für den Pfarrdienst, für die er sich an seinem Schreibtisch nur umdrehen musste, um hineinzugreifen. Die zweite nahm die gegenüberliegenden Wand in seinem Arbeitszimmer ein. Dort wuchs die belletristische Sammlung im Laufe der Jahre Regalbrett um Regalbrett.
Ab dem ersten Schuljahr war er durch Bildungswesen und Erziehungsarbeit des NS-Regimes sozialisiert worden. Nach dem Krieg wurde er sich der Verbrechen gewahr, für die er eine Mitschuld fühlte, ohne persönlich an verbrecherischen Akten beteiligt gewesen zu sein, und litt für den Rest seines Lebens daran, den Verführungen des Regimes aufgesessen zu sein.
Aus einer bildungsfernen Familie von Tagelöhnern und Kleinstbauern am Niederrhein stammend, verdankte er die Möglichkeit, ein Gymnasium besuchen und später studieren zu können, dem Dorfpfarrer und Stipendien der Kirche. In den Universitätsstädten Tübingen und Bonn erlebte er in den Nachkriegsjahren zum ersten Mal das, was für uns heute ganz selbstverständlich ist: freies kulturelles Leben. Und er begriff, dass seine Generation in den Jahren der Diktatur um etwas ganz Wesentliches betrogen worden war. So fielen die Abonnement-Angebote für die Taschenbuchreihen von Fischer und Rororo bei ihm auf den fruchtbaren Boden des ungestillten Hungers nach Kultur aller Art.
Auf diesem Weg kam Wilders Die Brücke von San Luis Rey, die Nr. 1 aus der „Fischer Bücherei“, in seine Bücherwand. Auch wenn wir nie darüber gesprochen haben – ich bin mir sicher, dass ihn dieser Roman sehr beschäftigt hat. Allein die zugrundeliegende Fragestellung, ob unser Leben vom Zufall oder von göttlicher Fügung bestimmt ist und wann ein Leben als vollendet bezeichnet werden kann, muss ihn als jungen Theologen bewegt haben.
Vier Jahrzehnte später kam das 195-Seiten-Bändchen in einer Bücherkiste zu mir. Ich reihte es ein in die Kategorie „Belletristik“ beim Buchstaben „W“. Mehr auch nicht. Meine Neugierde war vermutlich deshalb nie aufgekommen, weil ich zuvor mit Werken der amerikanischen Schriftstellergrößen Ernest Hemingway und William Faulkner schlechte Erfahrungen gemacht hatte: Männerbücher. Konnte Thornton Wilder anders sein? Ich wollte es gar nicht mehr versuchen. Bis vor einem Monat blieb mir so verborgen, welch ein unscheinbarer Schatz den Weg in meine Bücherwand gefunden hatte – vergilbte Seiten, die Ränder abgestoßen, der Karton an der Klebung fast gebrochen. Erst Robert Crottet, der über seine Bewunderung für und Begegnungen mit Wilder schreibt, brachte uns zueinander.
Was dann geschah, erlebe ich nicht oft bei einer Lektüre: Es kam eine ganz eigenartige Stimmung auf. Ich fand mich weniger in der Zeit wieder, in der die Geschichte spielt – das zweite Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts – als vielmehr in der Zeit, in der Thornton Wilder den Roman geschrieben hat, also in die 1920er-Jahren. Die Ursache für diese „Zeitverschiebung“ finde ich in einem extrem konzentrierten Erzählstil, in dem so unglaublich viel Kraft steckt. Ich fühlte mich in eine Stimmung hineinversetzt, wie sie bei der Lektüre einiger Erzählungen von Thomas Mann aufkommt. Wilders Kunst, geschickt zwischen Andeutungen hier und bildhaften Beschreibungen dort zu wechseln, das menschlich allzu Menschliche in seiner Vielschichtigkeit und Farbigkeit zu skizzieren, immer wieder mit herrlicher Ironie gewürzt, ist meisterhaft.
Wie bei vielen Stücken, die zur Weltliteratur zählen, entwickelt sich das Universum des Romans aus dem ersten Satz: „Am Freitag, dem 20. Juli 1714, um die Mittagszeit, riss die schönste Brücke in ganz Peru und ließ fünf Reisende hinunter in den Abgrund stürzen.“ (zitiert nach der neuen Übersetzung von Brigitte Jacobeit aus dem Jahr 2014, die jetzt neben der Ausgabe von 1962 steht).
Zeuge des Unglücks ist der Franziskanerbruder Juniper. Er sieht seine Chance gekommen zu beweisen, dass jedes einzelne der geendeten Leben abgeschlossen und der Tod kein Zufall war, und damit den Beweis der Existenz Gottes zu erbringen. Wenn es einen Plan im Universum gebe, wenn das menschliche Dasein vorherbestimmten Mustern folge, so müsse diese doch, in den so jäh abgeschnittenen Lebensläufen zu finden sein. „Entweder wir leben durch Zufall und sterben durch Zufall, oder wir leben nach Plan und sterben nach Plan“, ist der Ansatz für seine Forschungen.
Am Ende ist es nicht der Franziskanerbruder, der mit seinem pseudowissenschaftlichen Ansatz und den umfassenden Dokumentationen der fünf Leben mehr will, als die Kirche ihm erlaubt, sondern die Äbtissin, die mit wenigen Worten zusammenfasst, worum es im Leben geht: um das Lieben und das Geliebtwerden. „[…] die Liebe ist genug: denn die Liebe fließt zurück in die Kraft, aus der wir geschaffen wurden. Selbst die Erinnerung ist nicht notwendig für die Liebe. Es gibt ein Land der Lebenden und ein Land der Toten, und die Brücke zwischen ihnen ist die Liebe, sie allein überlebt, sie allein ergibt einen Sinn.“
Einfach wunderbar!
- Susanne -
Thornton Wilder
Die Brücke von San Luis Rey
Fischer Nr. 1, 58. Auflage, Februar 2022
ISBN 978-3-596-20001-6